Das Ende der Welt beginnt an einem Sonntag. An so einem typischen, gottverdammten Sonntag, den du eigentlich nur auf eine von zwei Weisen verbringen kannst: Wenn du mit jemandem zusammen bist, bleibst du einfach im Bett. Lauschst den Regentropfen die auf der Dachfensterscheibe trommeln, während ihr Herz dazu die Pauke schlägt. Bum-bum, bum-bum, bum-bum, ein melancholischer Punkrockbeat im Dreiviertel-Takt.
Du liegst einfach nur da, mit angenehm schweren Augen, während der Horizont draußen in der wirklichen Welt die letzten Bissen des Tages verschlingt, und dabei scharlachrotes Licht quer über den Himmel sabbert. Wenn du den Atem anhältst, kannst du das Zucken ihrer Glieder spüren. Immer dann, wenn sie durch die schmale Luke zwischen Wachen und Schlafen fällt. Grundlos. Bodenlos. Und du fällst mit ihr.
Wenn Du nur mit dir selbst zusammen bist, schlägst du um 14 Uhr 38 unsanft auf dem Laminatboden der Realität auf. Nachdem du eine gefühlte Ewigkeit lang versucht hast, dich vor ihrem schrillen Klingeln zu verkriechen – und dabei schließlich über die Grenzen deiner Matratze hinweggekrochen und aus dem Bett gefallen bist. Das Klingeln der Realität klingt wie Beethovens Neunte, die deine Tante Heidi in einem Anflug von Menschenhass irgendwann mal zum Rufton ihres steinzeitlichen Haustelefons gemacht haben muss.  
Dadadadadaaah dadadadadahhh
Du raffst dich auf, versuchst dem kleinen Mann mit dem großen Vorschlaghammer in deinem Kopf auszuweichen, und stolperst über das halbvolle Glas Sauerländer Bockwürste neben deinem Bett.
Dadadadadadadadadadadadah
Unbeeindruckt kämpfst du dich durch den Flur weiter in Richtung Badezimmer, wobei du schlurfende Wurstwasserfußabdrücke auf dem Lieblingsteppich deiner Lieblingstante Heidi hinterlässt.
Dadadadadaaah
Im Badezimmer angekommen stellst du fest, dass der saure Geschmack von halb verdautem Whiskey Sour noch saurer wird, wenn man ihn mit Zahnpasta mischt.
Dadadadadahhh
Du erbrichst diese Erkenntnis leise wimmernd ins Waschbecken, schleppst dich ins Wohnzimmer und starrst missbilligend das große, rote Telefon an, dass dich von dem modernen Edelstahltischchen aus anbrüllt.
Dadadadadadadadadadadadah

Dadadadadahhh
Resigniert ergreifst du den Hörer. Er ist kalt und schwer.
„Hey Digga! Bist du wieder bei uns?“
Du verfluchst den Tag deiner Geburt.
„Wie geht’s eigentlich deinem Handy?
Einen Moment lang bist du von dieser Frage irritiert. Weil der halbe Amerikaner in dir bei einem HANDY zunächst nicht ans Telefonieren denkt, sondern an Samantha Smith aus der High School. Samantha mit den weichen Lippen und den noch weicheren Händen, mit denen sie…
„Als dir dein Handy gestern Nacht ins Pissoir gefallen ist…,“ fährt die Stimme unbeirrt fort, „… warst du da eigentlich angepisst?“ Schallendes Gelächter dröhnt aus dem Hörer, das den kleinen Mann mit dem großen Vorschlaghammer zu neuen Höchstleistungen anspornt.
„Aber es gibt auch eine gute Nachricht! Willst du sie hören?“
Nein! Nein, verdammt nochmal!
„Früher musstest du immer aufs Display gucken. Jetzt hast du alle Nachrichten direkt im Urin.“
Du stellst fest, dass du das spiralförmige Telefonkabel mittlerweile so fest um deine rechte Hand gewickelt hast, dass es dir das Blut abschnürt.„Hey, jetzt sag doch auch mal was!“
Du atmest tief ein, unterdrückst das Bedürfnis, das altmodische Wahlscheiben-Telefon gegen die neumodisch greige-farbene Wand zu pfeffern, und schweigst stattdessen tapfer weiter.
„Ben?“, fragt plötzlich eine andere Stimme. „Ist alles okay bei dir?“ Weniger nerv-tötend. Mehr besorgt. Und dann: „Ich glaube, wir haben es gefunden!“
Du reibst dir die Augen. Dein Mund ist so trocken wie guter Humor. Aber er hat keine Pointe.
„Siehst du es auch?“
Schales Tageslicht fällt auf den kleinen Zettel, auf dem Tante Heidi „dein unmögliches Verhalten bei deiner Heimkehr um 6 Uhr heute Morgen!!!“ anprangert – gleichzeitig aber auch auf „das große Stück Schwarzwälder Kirschtorte im Kühlschrank“ hinweist, „das unbedingt gegessen werden muss.“ Als Gott deutsche Tanten erschuf, hatte er wahrlich einen großen Tag! Oder zumindest keinen Kater…
„Es ist riesig, Mann! Und ganz ehrlich… irgendwie gefällt es mir nicht.“
Wovon redet er?
„Wovon zum Teufel redest du?“ Du hörst die Worte von den Felswänden deines Verstands widerhallen. Aber ihr Echo erreicht nie das Licht. Und deine Wirkliche-Welt-Stimme bleibt stumm.
„Warte!“ Jetzt spricht wieder die erste Stimme. „Das da soll es sein?“ Kurze Pause – gerade lang genug um auf eine mögliche Antwort zu warten, und sie dann zu unterbrechen. „Du willst mich doch verarschen!“
Du schaust dich um. Nektarinenfarbenes Licht quillt durch die halb geöffneten Jalousien, und malt unwirkliche Schatten auf den Wurstwasser-verseuchten Teppich im Flur. Deine Augen wandern weiter durch den Raum, bis sie an dem altmodischen Telefon hängen bleiben, das wie ein Fremdkörper auf einem ovalen Edelstahltischchen thront. Es scheint zu flackern. Ein loses Kabel im Schaltkreis der Realität.
Irgendwas stimmt nicht, denkst du.
„Irgendwas stimmt nicht mit dem Telefon,“ sagst du in den Hörer.
„Ben? Kannst du mich hören?“ Die Stimme klingt jetzt blechern, und deutlich weiter entfernt. Als würde Tante Heidis Wohnzimmer gerade durch einen Tunnel fahren.
„Irgendwas stimmt nicht mit dem Telefon!“, schreist du in den großen, roten Telefonhörer.
„I…dwas …immt… …nicht,“ antwortet die Blechstimme.
„Ich rufe zurück!“, brüllst du, und knallst den großen, roten Hörer auf die große, rote Gabel.
In diesem Moment wird die Welt schwarz.
„W…s …um T…fel… is… h…r …os?“ Du schreist, doch deine Stimme bricht ab. Als hättest du die Verbindung zur Wirklichkeit endgültig verloren.
„Na…n? W… … los?“
Statisches Rauschen füllt deine Ohren. Deinen Kopf. Deinen Verstand. Dann ist die Leitung tot.
Als du die Verbindung zur Welt wiederherstellst, ist Tante Heidis Wohnzimmer verschwunden. Die Wände und Fenster um dich herum sind verschwunden. Und der kleine Mann mit dem großen Vorschlaghammer in deinem Kopf ist ebenfalls verschwunden. Das einzige, was noch da ist, ist das große, rote Telefon, das vor dir im Nichts zu schweben scheint. Es klingelt.
Dadadadadaaah
Du nimmst den Hörer ab.
„Du hast mich gefunden“, flüstert eine Stimme am anderen Ende der Leitung.
Nur, dass die Stimme gar keine Stimme ist. Sie ist ein Kribbeln. Das Kribbeln von einer Million Spinnenbeinen auf dem Höhlenboden deines Verstands, auf der Flucht vor dem Lichtkegel einer gigantischen Taschenlampe. Gott, wie du Spinnen hasst! Diese kleinen, ekelhaften Biester mit ihren spindeldürren Beinen und bizarr geformten Körpern. Und sie beißen!
„Ich beiße nicht,” flüstert die Stimme die gar keine Stimme ist. „Es sei denn, du willst, dass ich beiße.“
Du knallst den großen, roten Hörer wieder auf die große, rote Gabel. Doch als du die Hand anhebst, hebt sich der Hörer mit ihr. Als ob er an deiner Hand festgeklebt sei. Oder schlimmer noch: Als ob der Hörer in Wahrheit deine Hand sei.
„Du hast nach mir gesucht,“ flüstert die Stimme aus deiner Telefonhand. Sie ist jetzt so klar, als würde ihr Besitzer direkt neben dir stehen. „Und du hast mich gefunden! Herzlich Willkommen in deinem schönsten Albtraum, Benjamin.“
more…

Albtraumfänger, Prologue