Rebound

Vorspiel

1

„Rebound!“, schallte es durch die Sporthalle.

„Alex, wenn du nicht langsam anfängst, unter’m Korb zu arbeiten, fliegst du aus der Mannschaft. Verdammt noch mal, wie oft muss ich euch Versagern denn noch erzählen, dass man nicht nur mit der Offense Spiele gewinnt?“

„Jetzt geht das schon wieder los!“ Peter, von seinen Freunden meist Pete genannt, drehte sich im Lauf zu seinem Freund Alex um. „Der Alte hat heute bestimmt wieder Prügel von seiner Frau bezogen.“

Alex strich sich eine seiner langen, dunkelbraunen Locken aus dem Gesicht und lächelte vielsagend. Pete, der schon oft über dessen Eitelkeit bezüglich seiner Haare geschmunzelt hatte, wusste sofort, dass sein Mannschaftskamerad und gleichzeitig bester Freund dasselbe dachte. Manchmal kam es ihm so vor, als seien sie telepathisch miteinander verbunden, oder funkten zumindest auf der gleichen geistigen Wellenlänge. Zu oft schon hatten sie Dinge gleichzeitig gesagt oder gedacht. Vielleicht lag es daran, dass sie schon, seit sie denken konnten, aufeinander hingen, wie die Kletten, doch er war der festen Überzeugung, dass sie selbst bei späterem Kennenlernen diese Verbindung gespürt hätten.

Die Tatsache, dass sich Petes Vater vor knapp zwei Jahren das Leben genommen hatte, verstärkte ihr Zusammenhaltsgefühl noch und so waren sie seit diesem Tag fast wie Brüder. Manchem Außenstehenden, aber auch engen Freunden und sogar den eigenen Eltern, schien dieses blinde und stumme Verständnis meist unbegreiflich und teilweise schon etwas unheimlich zu sein.

„Was gibt es da zu schwatzen?“ Die scharfe Stimme Herrn Meyers, ihres Trainers, riss Pete aus seinen Gedanken. „Quatschen könnt ihr beim Kaffeetrinken oder beim Angeln, aber nicht beim Training. Könntet ihr nur halb so gut spielen, wie ihr Scheiße baut, dann hätte Unterschantzheim bald ein Bundesliga-Team mit euch als Stars! Auf den Boden, lasst mich dreißig sehen!“

Gemeint waren natürlich Liegestütze. Die Beiden kamen der Aufforderung murrend nach.

„Alter Leuteschinder!“, raunte Alex kaum hörbar.

Doch der Coach schien Ohren zu haben wie ein Luchs: „So Herr Lamme, wir wollen uns also widersetzen? Was glaubt ihr eigentlich, wo ihr hier seid? Das gilt für euch alle, ihr Waschlappen, also hört genau zu: Wenn ihr dem Niggerpack überlegen sein wollt, dass die Vereine übervölkert und die höheren Liegen dominiert, dann braucht ihr vor allem eines, es fängt mit einem „D“ an. Peter?“

„Ähhm, also ich glaube…“

„Was, du glaubst…?“, wollte der Trainer gerade zu einer weiteren Predigt ansetzen, als ihn Alex lautstark unterbrach: „Ich weiß es, Drogen!“

Schlagartig wurde es still in der Halle. Man hätte einen Joint brennen hören können, so beschrieb Alex es irgendwann einmal. Der Zustand hielt nur eine halbe Sekunde an, doch den meisten kam es vor, als handele es sich um eine Ewigkeit. Als Herr Meyer zu reden begann, klang seine Stimme erstaunlich ruhig, fast gelassen. „Dann ist er am Gemeinsten“, hatte Frede, ein weiteres Teammitglied, seines Zeichens einen Meter fünfundneunzig groß und hundertzehn Kilogramm reine Muskelmasse schwer, vor kurzem bemerkt. Trotz seinen körperlichen Vorraussetzungen pflegte er Probleme mit Worten zu lösen und war keiner dieser „Schmalz in den Muskeln und Luft im Kopf“-Typen, von denen es seit der Erfindung der Anabolika nur so wimmelte.

 „Ihr denkt also, das ganze ist ein Witz, ja?“ Er wartete keine Antwort ab. „Soll ich euch mal zeigen, was ich lustig finde? Jeder von euch Komikern schnappt sich jetzt einen von den Medizinbällen, und zwar von den schweren, nicht die kleinen, leichten „Frauen-Bälle“, und dann werdet ihr laufen, sagen wir mal – ich will ja nicht so sein – hundertsechzig Runden! Dabei…“, er machte eine vertikale Ruderbewegung mit den Armen, „… werdet ihr den Ball so hoch und runter bewegen.“

„Aber Coach…“

„Kein aber, es hat sich ausge-„aber“-t! Wenn ihr kleinen Schwanzlutscher glaubt, ihr könntet mich zum Narren halten, dann habt ihr euch getäuscht, und zwar gewaltig. Ich werd’ euch schon noch zeigen, was ’ne Harke ist.“

„Herr Meyer, das ist Wahnsinn, das schaffen wir niemals! Außerdem erscheint mir diese Maßnahme ein wenig übertrieben.“ Fredes Stimme klang in Alex Ohren weder sehr sicher noch äußerst überzeugend.

„Es ist mir schnurzpiepegal, wie dir was erscheint, du Wicht.“

Diese Aussage wäre, aufgrund der Tatsache, dass Frederik den schmächtigen Mann um gut dreißig Zentimeter überragte, ein Grund zum Schmunzeln gewesen…

Niemand tat es.

„Entweder du läufst, oder du kannst dir¢n neues Team suchen.“

„Also, das geht mir entschieden zu weit! Hören sie mir mal genau zu, sie dreckiger Fascho, nur weil sie als Kind…!“

Der Tritt, den er von Alex bekam, unterbrach ihn abrupt. „Mach jetzt keinen Fehler! Der Kerl kann dich aus’em Team schmeißen, wenn er will.“

„Das schert mich herzlich wenig, der soll bloß kommen! Verdammter Nazi!“

„Ihr habt die Wahl“, der Trainer hatte die Beleidigung entweder nicht gehört oder ignorierte sie, „entweder ihr lauft, oder ihr spielt ab morgen überall Basketball, nur nicht in meinem Team.“

„Von wegen ihr Team…“, begann Frede erneut, doch er verstummte sofort wieder, als er die Blicke sah, die seine Mitspieler im zuwarfen.

„Lass gut sein. Spar¢ dir besser deine Kräfte. Du wirst sie noch brauchen!“ Pete, der jetzt direkt neben ihm stand, wandte seinen Blick wieder dem Trainer zu.

„Hören sie, Alex und ich haben uns nicht an die Regeln gehalten, also werden wir auch die Strafe auf uns nehmen.“

Er musste seinen Freund nicht einmal ansehen um zu wissen, dass dieser gerade den selben Vorschlag hatte machen wollte.

„Oh, zwei ehrenhafte Samariter! Ihr seid ja regelrechte Helden. Das sind dann, Moment,… achthundert Runden für jeden von euch!“

„Aber sie haben eben hundertsechzig gesagt!“ Der Klang ihn Alex Stimme gefiel Pete ganz und gar nicht. Er schien kurz davor zu sein, völlig auszurasten.

„Ich weiß, was ich gesagt habe. Aber da ihr die Schuld des Teams tragen wollt, müsst ihr in Folge dessen doch wohl auch dessen Runden laufen, oder sehe ich das falsch? Und nach Adam Riese sind, wenn mich nicht alles täuscht, hundertsechzig mal zehn geteilt durch zwei genau achthundert Runden!“

„Aber, das ist doch Wahnsinn, kein normaler Mensch ist dazu imstande, achthundert Runden mit einem Medizinball zu laufen, ganz zu schweigen davon, dass es viertel vor acht ist und ich morgen in die Schule muss.“

„Dacht ich’s mir doch! Ihr steht mal wieder nicht zu eurem Wort. Ihr seid wirklich bemitleidenswert!“

„Coach, wir laufen freiwillig mit. Oder nicht, Jungs?“ Frede hatte sich den Anderen zugewandt, die zustimmend nickten. Die Chemie im Team hatte schon immer gestimmt.

Damit schien Herr Meyer nicht gerechnet zu haben, denn einen Augenblick lang ihm fehlten tatsächlich die Worte.

Als er seine Fassung wiedererlangte, nickte er zustimmend. „Damit wären es also wieder hundertsechzig. Na dann mal los, ich will vor Mitternacht zu Hause sein.“

Hätten Pete und Alex gewusst, dass dies erst der Anfang ihrer heutigen Schwierigkeiten sein sollte, dann wären sie der Anweisung ihres Trainers sicherlich mit noch grimmigerer Miene nachgekommen.

2

Essay zum Thema: Meine Welt

von Alexander Lamme

Wenn ich all die Menschen sehe, welche in der Hektik ihres Daseins durch das Leben rennen, möchte ich nicht zu dieser Spezies gehören. Wie kann ein Lebewesen, dass sich einbildet, die Krone der Schöpfung zu sein, sich mit der heutigen Situation zufrieden geben?

Wozu leben wir?

Für die Gewissheit, einmal zu sterben?

Für Geld, Ruhm, Wohlstand? Für die Erfüllung der Träume, welche uns die Gesellschaft aufdiktiert?

Ich will jedenfalls nie in einer Seniorenresidenz oder einer schäbigen Drei-Zimmer-Wohnung enden, wo ich die letzten Jahre meines Lebens vor mich hin vegetierend in meinen eigenen Exkrementen verbringe. Ich glaube an meine Generation und an die kommenden. Es wird Zeit, die Gesellschaft aufzurütteln, sowohl mit Worten, als auch mit Taten. Wir, die Jugend, sind dazu imstande, dieses Jahrhundert zu einem friedlichen und lebenswerten Jahrhundert zu machen.

Die Grausamkeiten der letzten Zeit dürfen unter keinen Umständen so weitergehen. Wie kann es sein, dass wir in Schwimmbäder springen, unsere Autos dreimal pro Woche putzen und so oft es geht ausgiebig baden, während auf der anderen Seite der Welt tagtäglich Unzählige verdursten? Warum gibt es Kriege um Öl, Reichtum und Macht, obwohl es doch wahrlich wichtigere Dinge im Leben gibt? Warum hassen wir Menschen, nur weil sie anders aussehen, reden oder denken als wir?

Meine Welt ist anders, fairer, schöner. Und wir können es schaffen. Ich weiß es. Wir müssen nur dafür kämpfen, mit allen Mitteln. Ansonsten sieht es für unsere Zukunft alles andere als rosig aus…

Du hast gute Denk- und Kritikansätze, formulierst jedoch keine konkreten Verbesserungsvorschläge. Sich beschweren kann jeder, die Kunst ist nur, es besser zu machen.

Daher nur:                                               Voll ausreichend (4+)

Schade!                                                                                                                                    Kt

Wie recht der mittlerweile grauhaarige Mann, der am Fenster seines „Moderno-Appartments“ saß und auf die gläsernen Bauten des Berlins der 2040er Jahre blickte, mit diesem letzten Gedanken gehabt hatte, konnte er noch nicht erahnen. Doch es sollte nicht mehr allzu lange dauern, bis er wieder das Rauschen hören würde.

Eben jenes Rauschen, welches er wohl Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte lang nicht mehr gehört hatte. Doch er konnte sich noch daran erinnern, als sei es gestern gewesen. Manchmal wachte er nachts schweißgebadet auf und dachte plötzlich an Frede, Suzanna, Jimmy, Sam und all die Anderen – und an ihr grausames Schicksal. Die Zeit heilt viele Wunden, doch Narben bleiben dennoch zurück. Wenn er von Rebound etwas gelernt hatte, dann diese Tatsache. Oft dachte er daran zurück, wie alles begonnen hatte, wie er und Frederik – Gott habe ihn selig – den schwarzen Jungen mit der undefinierbaren Augenfarbe vor der Strafe bewahrt hatten, die ihm aufgrund seiner Unachtsamkeit gedroht hatte. Doch war dies wirklich der Anfang gewesen? Blasse Erinnerungen kehrten aus den Tiefen seines Gedächtnisses zurück:

Blaue Fliesen, das Prasseln von Wasser…, Blut, Schreie, Wut, Unsicherheit, Ohnmacht,… Freundschaft…

„Schatz, ist alles in Ordnung? Du siehst aus, als sei dir der Teufel erschienen.“

„Alles bestens, Claudia!“ Er ergriff die Hand seiner Frau, die sie ihm besorgt auf die Schulter gelegt hatte. „Ich schwelge nur mal wieder in Erinnerungen.“

„Jaja, ich weiß, dein liebstes Hobby.“

„Du ahnst ja gar nicht, wie recht du hast“, dachte er.

„Ich wollte dich eigentlich nur darum bitten, dass du dich fertig machst. Wir wollten doch heute zu Mark fahren, es ist sein Geburtstag.“

„Ich weiß, gib mir fünf Minuten.“ Er strich die Zettel glatt. Er schrieb nicht mehr, scheinbar war ihm die Gabe, seine Gedanken in Worte zu fassen, schon vor langer Zeit verloren gegangen. Außerdem ignorierte er sämtliche Medien, seien es die mittlerweile digitalisierten Tageszeitungen, das Fernsehen oder das Internet.

Als er die Blätter in die Schreibtischschublade legen wollte, griff er unbewusst nach dem Erstbesten, was er in dieser finden konnte. Es war ein Buch, auf dessen Deckel ein rotes „A“ mit einem Kreis darum prangte. Fast wie automatisiert schlug er es auf und begann, an einer beliebigen Stelle, zu lesen. In nicht ganz so sicherer, aber dennoch eindeutig seiner Handschrift stand dort geschrieben:

Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Es war, als hätte mein Kopf zu pulsieren begonnen, als hätte ich meine Gliedmaßen nicht mehr in unter Kontrolle. Es hatte damit begonnen, dass der verdammte Meyer mal wieder seine Tage hatte und seine Wut an uns ausließ. Hundertsechzig Runden…

Ich fühle mich, als hätte ich zwei Nächte durchgemacht, mich ausschließlich von Whisky ernährt und würde jetzt nach dreißig Minuten Schlaf erwachen. Ich habe einen großen Fehler begangen, soviel ist sicher.

So, jetzt erst mal Einen rauchen, dann setz¢ ich das hier fort…

Trotz der Tragik des Ganzen, musste Alex unvermittelt schmunzeln. Er war damals, vor achtunddreißig Jahren, schon ein wirklich seltsamer Mensch gewesen.

Die Stimme seiner Frau riss ihn wie so oft aus seinen Gedanken: „Alexander, würdest du jetzt bitte kommen!“

„Ja, Schatz, entschuldige. Gib mir zwei Minuten.“

Pulsieren, ja, eine wirklich gute Beschreibung. Nicht so gut wie Rauschen, aber immerhin…

Es war ja erst der Anfang gewesen.

3

„Das… ist… doch Wahnsinn..!“, keuchte Frederik, dessen Haare derart schweißnass waren, dass sie an seinem Kopf klebten.

„Was… meinst… du,… die wievielte Runde das ist?“ Auch Pete hörte sich nicht viel besser an.

„Neunzig?“

„Wie neunzig? …Wenn ich’s nicht…besser wüsste…, würd’ ich dreihundert sagen!“

„Meine Herren, das reicht. Ich habe Hunger und will hier weg, bevor die letzte Imbissbude zumacht.“ Die Stimme ihres Trainers klang beinahe fröhlich, doch bei genauerem Hinhören konnte man den sarkastischen Unterton doch deutlich herausfiltern. „Los, geht duschen, ihr habt… zwanzig Minuten, dann schließ’ ich ab.“

„Wie viele waren es, Coach?“ Alex’ Stimme zitterte vor Anstrengung, er schwitzte mehr als jeder andere und trank seine Wasserflasche (die dritte, die an diesem Abend öffnete) in einem Zug leer.

„Das wollt ihr gar nicht wissen, ihr Verlierer. Und jetzt beeilt euch!“

Die Jungen schleppten sich in die Kabine. Bis sie sich ausgezogen hatten und unter der Dusche standen, sprach keiner ein Wort.

Der erste, der das Schweigen brach, war Alex: „Wir müssen was gegen ihn unternehmen, dass ist doch wohl sonnenklar. So geht das nicht weiter…!“

„Ich wette, er hat die Runden nicht mal gezählt. So was ist doch kein Training…!“ Zu der Erschöpfung in Frederiks Stimme war Wut hinzugekommen.

„Naja, wir kriegen zumindest ’ne ordentliche Portion Kondition.“ Petes Aussage klang fast schon wie eine Entschuldigung.

Fassungslos starrte Alex ihn an. „Sag mal, haben sie dir jetzt vollends das Gehirn zermalmt oder was? Der Typ ist doch ein verdammter Sadist.“

„Und ’n dreckiger Fascho ist er obendrein, oder wie siehst du das?“, mischte sich Frederik ein. Der Rest des Teams hielt sich höflich zurück, sie wussten, dass ein Streit zwischen Alex und Peter höchst selten vorkam, es jedoch ratsam war, sich nicht einzumischen, wenn es soweit war. Und es sah ganz so aus, als ob die beiden auch nicht vorhatten, ihn vorerst beizulegen. Denn trotz ihres blinden Verständnisses in fast allen Situationen war das Thema Ausländer-Politik, auf das es nun, dank Frederiks Einwand hinauslief, immer noch ein heftiger Streitpunkt. Alex war überzeugter Linksaußen, wie er es selber bezeichnete. Er war aktives Mitglied der Antifa-Bewegung, nahm oft und gerne an Anti-Kriegs Demos teil und verschlang jegliche Lektüre, die auch nur im entferntesten kommunistisch oder moralphilosophisch aussah. Schon im zarten Alter von dreizehn Jahren hatte er Nietzsches „Jenseits von Gut und Böse“ gelesen, bereits ein halbes Jahr früher Weisheiten aus der sogenannten „Mao-Bibel“ zitiert, sehr zum Verdruss seiner größtenteils doch recht konservativen Lehrer.

Peter hingegen konnte sich mit den Idealen seines Freundes in diesem Punkt nicht anfreunden, und war eher contrairrer Meinung. Alex hatte nie gewagt, es ihm ins Gesicht zu sagen, aber er vermutete, dass die Umstände, unter denen Petes Vater gestorben war, ein Grund für dessen Einstellung waren.

Jörg Kochmeister hatte lange Zeit als Maurer gearbeitet, jedoch aufgrund der schlechten Konjunktur seine Arbeit verloren. Sein damals sechzehnjähriger Sohn war allerdings davon überzeugt, dass der Chef seines Vaters lieber eine billige, ausländische Arbeitskraft beschäftigte, als einen kompetenten Deutschen mittleren Alters. Zwar hatte sein Vater keinen Abschiedsbrief hinterlassen, doch für Peter stand außer Frage, dass „irgend ein dahergelaufener Schwarzarbeiter aus dem Ostblock“ seinen Vater auf dem Gewissen hatte.

Umso erstaunlicher war, dass die beiden sich so gut wie nie stritten.

„Du hältst dich da mal ganz raus, du Super-Gigolo.“ Dieser Anspielung auf seine fehlende sexuelle Erfahrung konnte Frederik nun wirklich gar nichts abgewinnen. Er wollte gerade zu einer passenden Antwort ansetzen, als Alex ihm zuvorkam:

„Du willst mir doch nicht allen Ernstes erzählen, dass du seine Methoden für gut heißt, oder? Da hatten die Sklaven im alten Ägypten ja mehr zu lachen als wir hier beim Training. Und selbst du müsstest doch wohl einsehen, dass er rassistisches und volksverhetzendes Gedankengut verbreitet. Allein dafür könnten wir ihn schon bei den Bullen verpfeifen.“

„Woran liegt es eigentlich, dass in diesem verpissten Staat nur die Roten ihre Meinung frei äußern dürfen? Der Mann hat doch völlig Recht. Die großen Vereine lassen sich von den Niggern ausnehmen und kontrollieren, während für deutsche Nachwuchstalente kein Platz ist.“ Nun schrie Pete fast, die Adern traten aus seinem Hals hervor und sein Kopf war so rot wie nicht mal der überzeugteste Erz-Kommunist hätte sein können.

„Du bist doch’n Spasti, das bist du…!“ Endlich hatte Frederik sich revangieren können.

Doch Pete überging den Einwurf, als hätte er ihn nicht gehört:

„Dieses Pack klaut uns die Steuergelder, die Arbeitsplätze, die Wohnungen, das Essen! Warum um alles in der Welt lassen wir die ganzen Spasalacken hier überhaupt noch rein? Ohne diese Schmarotzer ginge es uns mit Sicherheit wesentlich besser.“

„Jetzt zieh aber den Kopf mal wieder aus deinem Arsch, vielleicht triffst du dann auch öfter den Korb. Du willst mir doch nicht ernsthaft erzählen, dass du dieses rechte Gewäsch glaubst, das du da faselst.“ Jetzt war auch Alex äußerst verärgert, die Muskeln an seinem gesamten Oberkörper zuckten und nicht einmal das eiskalte Wasser konnte ihn beruhigen.

„Oh doch und ich erzähl dir gleich noch was, mein Lieber. Selbst wenn ich den Korb nicht treffe, treff’ ich wenigstens mit meinem Schwanz den verhurten Mund deiner ebenso verhurten Mutter.“

Ein Raunen ging durch den Duschraum, danach war es still. Alex hörte das Rauschen der Duschen, aber da war noch etwas.

Ebenfalls ein Rauschen, aber anders, irgendwie intensiver. Er konnte den Herkunftsort nicht hundertprozentig lokalisieren, vermutete aber, dass es in seinem Kopf war. Was zum Henker war das? Nicht, das er es als unangenehm empfunden hätte, ganz im Gegenteil. Wenn es nach ihm ginge, konnte es anhalten, so lange es wollte.

Urplötzlich überkam ihn ein Gefühl von blinder Wut. Es war so, als würde er von ihr geschüttelt und als wolle ihn das Geräusch darauf hinweisen, dass gerade eine seiner goldenen Regeln missachtet worden war.

Auch die Übrigen wussten, dass er, Alexander Lamme, für jeden Spaß zu haben war und längst nicht jedes Wort auf die Goldwaage legte. Doch wenn es um seine Familie ging, verstand er keinen Spaß.

Seine leiblichen Eltern waren gestorben, als er noch ein Baby gewesen war, daher hatte er die ersten Jahre seines Lebens in einem Heim verbracht, bis ihn Familie Lamme adoptiert hatte. Zwar war er mit den Ansichten seiner Adoptiveltern auch nicht völlig einverstanden, doch ihn verband ein Gefühl mit ihnen, das leibliche Kinder wohl niemals empfinden würden. Die Zeit im Heim war, soweit er sich noch daran erinnern konnte, die Hölle auf Erden gewesen und somit waren die Lammes in eine Art Retterrolle geschlüpft. Daher ließ er niemanden auch nur ein einziges schlechtes Wort über sie sagen und dieser Tatsache war sich auch Pete bewusst.

„Du nennst meine Mutter eine Hure, du kleines Arschloch? Dafür wirst du büßen!“ Seine Stimme klang, als käme sie von weit weg und bevor er sich darüber bewusst war, was geschah, schnellte er auch schon auf seinen besten Freund zu.

„Es tut mir leid“, wollte Pete sagen, doch dazu kam er nicht mehr. Mit einem Ausdruck in den Augen, den er bei ihm noch nie gesehen hatte, kam Alex auf ihn zugeschossen.

4

„Mark Keller ist seit vier Tagen nicht mehr unser Patient. Ich bin nicht befugt, ihnen weitere Informationen zu geben.“

Die blecherne Stimme des Rezeptionsroboters ließ Alex erschauern. Er verließ seine Wohnung nicht gern, von dem unternehmungslustigen Jungen, der er mal gewesen war, war nicht mehr viel übrig. Er fand, dass die Welt schlecht war, und im Laufe der Zeit immer schlechter wurde. Er hasste die technischen Neuerungen, er hasste die in Hektik versunkene Zivilisation, er hasste die Überbevölkerung des Planeten. Am Liebsten hielt er sich in seiner Wohnung auf und träumte von einem besseren Leben. Den Glauben daran, selber dafür etwas tun zu können, hatte er schon lange verloren.

„Dann sag uns doch, wer uns weitere Informationen geben kann, du dämlicher Blecheimer.“

„Ich verbitte mir diese Unhöflichkeiten! Bei weiteren Fragen, wenden sie sich bitte an die Klinik-Leitung, dritte Etage, Zimmer 357B.“

„Du hast doch sowieso keine Gefühle, also werd’ ich jawohl auch mit dir reden können, wie ich möchte!“

„Bei weiteren Fragen, wenden sie sich bitte an die Klinik-Leitung, dritte Etage, Zimmer 357B.“

„Oh du verdammtes…“

„Schatz, lass es gut sein.“ Die sanfte Stimme seiner Frau ließ seine Wut etwas abkühlen.

„Lass uns einfach in die dritte Etage fahren und mit den Verantwortlichen sprechen. Das werden schon keine Roboter sein.“

„Wäre ja auch noch schöner“, erwiderte er grimmig.

Manchmal fragte sie sich wirklich, warum sie ihn geheiratet hatte. Eigentlich war er ein Miesepeter gewesen, schon als sie ihn vor über dreißig Jahren durch Zufall kennen lernte. Und er hatte sich im Laufe der Jahre nicht einen Deut gebessert. Und dennoch liebte sie ihn, seine etwas schrullige Art, den verträumten Blick, wenn er mal wieder seinen Gedanken nachhing. Manchmal hatte sie das Gefühl, er lebte in seiner eigenen kleinen Welt und wollte nicht einmal ihr Zutritt zu ihr gewähren.

Sie schlenderten auf den Turbo-Lift zu, einer Art Glasröhre mit etwa einem halben duzend Sesseln, auf einer Plattform, darin.

„Dritte Etage, bitte.“

„Warum sagst du „bitte“? Es ist doch selbstverständlich, dass er das tut. Es ist sein Job, nur dafür wurde er konstruiert.“

„Ja Schatz, entschuldige!“ Sie hatte kein großes Interesse an einer Diskussion, da sie sowieso meist den kürzeren zog. Vielleicht war es auch das gewesen, was sie so an ihm faszinierte: Seine unglaubliche Überzeugungskraft.

Sie nahmen Platz. Das Kunstleder der Sessel schien neu zu sein, zumindest waren keine Verfärbungen oder Flecken zu erkennen.

„Dritter Stock, bitte aussteigen.“

„Vielen Dank.“ Als sie das Augenrollen ihres Mannes sah, bereute Claudia schon wieder, etwas gesagt zu haben.

„Man fährt eine Sekunde mit dem Aufzug, und sie stellen Sessel zum Sitzen rein? Claudia, was ist das nur für eine Welt, in der wir leben?“

Seine Frau überging den Kommentar: „357B, hier ist es.

Auf ihr Klopfen wurde mit einem einfachen „herein“ geantwortet.

Musste er auch auf ein solches „herein“ warten, bevor er ins Dreamland eintreten durfte? Er war sich nicht sicher, dachte aber, dass das Visionaris vielleicht eine Art Transportmittel darstellte, welches die Menschen in die Scheinwelt überstellte.

Aber wie?

Er wusste es nicht.

Es gab so Vieles, das er nicht wusste.

„Schatz, kommst du?“

„Ja, natürlich!“

„Guten Tag, was kann ich für sie tun?“ Der Mann, der sie begrüßte, war groß, schlank und etwa Mitte dreißig.

„Wir benötigen eine Auskunft, es geht um meinen Bruder“, sagte Claudia.

„Nehmen sie Platz. Ist ihr Bruder Patient bei uns?“

„Er war es. Bis vor zwei Minuten dachte ich, er sei es noch immer. Sein Name ist Mark Keller.“

„Mark Keller?“ Beatrice sollte sie telefonisch informieren. Verdammte Roboter.“

„Sie geben ihnen Namen?!“ Alex sah verwundert und gleichzeitig schockiert aus.

„Es ist ja auch nicht so wichtig. Was ist mit meinem Bruder?“ Sie wollte ihrem Mann keine Chance geben, mit dem Mann eine Diskussion über die Rechte der Roboter zu beginnen.

„Nun, wir haben ihn in eine neuartige Klinik verlegen lassen, welche speziell für Koma-Patienten gebaut wurde. Wir konnten nichts mehr für ihn tun.“

„Hat sich sein Zustand verändert?“

„Nicht, dass ich wüsste. Aber ich denke, sie sollten sich selber mit der Klinik in Verbindung setzen, wenn sie nähere Informationen wünschen.“

„Das werde ich tun. Wie kann ich dort jemanden erreichen?“

„Einen Moment, ich hatte einen Prospekt erhalten,…ah, da ist er ja. Darauf steht alles weitere, Telefonnummer, Adresse dieser ganze Kram.“

„Vielen Dank!“

„Keine Ursache, auf Wiedersehen.“

5

Der erste Schlag traf Pete oberhalb des linken Auges.

Schmerz durchzuckte seinen gesamten Körper. Er wollte sich die Hände schützend vors Gesicht halten, doch Alex war schneller. Diesmal erwischte er die Nase seines besten Freundes und dieser begann leise zu wimmern. Man hatte förmlich hören können, wie das Nasenbein brach und Pete befand sich am Rande der Besinnungslosigkeit, kämpfte jedoch dagegen an. Seine Nase blutete, und zwar nicht zu knapp. In Sturzbächen lief es seinen Körper hinunter und bildete am Boden eine Pfütze. Man hätte meinen können, das schmerzverzerrte Gesicht und das Wimmern seines Freundes, sowie die Tatsache, dass die Blutung eindeutig zunahm, würden Alex zur Besinnung kommen lassen, doch weit gefehlt.

Stattdessen holte zu einem dritten Hieb aus und diesmal legte er sein gesamtes Körpergewicht in den Schlag. Pete sah die Faust auf sein Gesicht zurasen, doch es war bereits zu spät. Der dritte Schlag war mit Abstand der härteste. Er wurde nach hinten geschleudert und sein Kopf prallte mit voller Wucht gegen die blau gekachelte Wand und hinterließ dort einen roten Fleck. Er schrie auf, ein Geräusch, welches Alex nie wieder vergessen sollte, verlor jedoch immer noch nicht das Bewusstsein. Die Wucht des Schlages war so enorm gewesen, dass Peter regelrecht von der Wand abprallte und nach vorne fiel. Er sah den Boden auf sich zu kommen und versuchte seinen Sturz mit den Armen abzufangen, was ihm jedoch gänzlich misslang. Er stürzte auf den linken und als dieser unter der Wucht seines Aufpralles, der Härte der Fliesen und dem Gewicht seines Körpers brach, fiel er endlich in eine tiefe und schmerzfreie Ohnmacht.

Als er Stunden später im Krankennhaus erwachte, dachte er zuerst, er habe schlecht geträumt, doch die unerträglichen Schmerzen in seinem Arm überzeugten ihm vom Gegenteil. Als er die Augen aufschlug, wobei sein linkes blau und geschwollen war, blickte er in das besorgte Gesicht seiner Mutter.

„Ich glaube er kommt zu sich, Gott sei Dank.“

„Mit wem zum Henker redet die da?“, dachte er, doch eigentlich war es ihm egal. Er begann langsam zu realisieren, wer ihm das alles eingebrockt hatte. „Super Alex, reife Leistung. Du hast mich krankenhausreif geprügelt, weil ich…, na, warum eigentlich?“

Er konnte nicht glauben, dass seine Bemerkung allein ausgereicht hatte, um seinen Freund derart wütend zu machen. Er kannte ihn so gut, dass er genau wusste, das Alex Gewalt verabscheute.

(Und dieser Ausdruck in seinen Augen, vergiss nicht den Ausdruck in seinen Augen.)

Und doch hatte er so ein Gefühl, dass auch er nicht ganz unschuldig war, das Geschehene vielleicht sogar wissentlich provoziert hatte. Aber daran wollte er nicht denken, zumindest jetzt noch nicht.

„Mama, ich bin okay!“, sagte er mit dünner Stimme. Doch er  war es ganz und gar nicht und das wusste sie genauso gut wie er.

„Wie konnte das nur passieren? Alex war total am Ende, die Sanitäter wollten ihn schon fast mit einliefern. Er hat die ganze Zeit von irgendeinem Rauschen geredet und davon, dass er sich nicht mehr in der Gewalt hatte. Und wieso hat ihn keiner daran gehindert, ihr wart doch nicht alleine unter der Dusche.“

Diese Frage hatte sich Pete auch schon gestellt, doch jeder, der seine Augen gesehen hätte, wäre vor Alex davongelaufen, anstatt sich ihm in den Weg zu stellen…

Noch bevor Alex zum ersten Mal zugeschlagen hatte, war Herr Meyer, unbemerkt von den Jugendlichen in die Umkleidekabine geschlichen. Er hatte in dessen Sporttasche gekramt und eine Wasserflasche herausgenommen, in der nur noch eine winzige Pfütze zurückgeblieben war.

Dann war er aus der Kabine verschwunden.

Er verließ die Sporthalle durch den Hinterausgang, ging geradewegs auf seinen Wagen, einen alten Opel Kadett B, zu und stieg ein. Sein Blick war ebenso leer wie die Straße vor ihm und als er losfuhr und seine Augen langsam wieder ihr normales grau-grün annahmen, begann er zu weinen. Er war sich darüber im klaren, dass niemand ihm die Geschichte glauben würde. Jeder würde sich fragen, wo um alles in der Welt der Trainer gewesen war, als…

Ja was eigentlich? Er hatte die seltsam violette Flüssigkeit in die Flasche gefüllt, dass heißt sein Körper hatte es getan, während er hilflos zusehen musste. Doch weshalb? Wer beabsichtigte, was damit zu bewirken? Um was für eine Art von Flüssigkeit hatte es sich überhaupt gehandelt? Wo kam sie her? Er hatte sie jedenfalls nicht mit in die Halle genommen. Wie konnte etwas oder jemand einfach so über seinen Körper bestimmen und weshalb war er, sie oder es nun so urplötzlich verschwunden? All diese Fragen waren nebensächlich, denn er würde keine Antwort mehr finden, eigentlich wollte er auch gar keine. Seine Energie war verbraucht, sein Lebenswille erloschen. Auch das war das Werk des Parasiten gewesen. Ja, Parasit war eine gute Bezeichnung, Gehirnparasit. „Aber bei mir wirst du nicht mehr schmarotzen, nie mehr“, dachte er. Und als er das Auto auf Hundertdreißig Stundenkilometer beschleunigte und den Baum durch die Windschutzscheibe immer näher kommen sah, begann er zu lächeln.

(Nie Mehr.)

...
Kein letztes Gefühl und kein Abschiedskuss,
im Radio kommt dein Lied und mit dem Baum kam der Schluss
...

(Auch das würde man verstehen, früher oder später…)

6

Es hatte ihn gefunden, da konnte es keinen Zweifel geben. Es hatte die Kraft regelrecht spüren können, die von seinem Geist ausgegangen war.

Und es schien so, als ließe der Lebenswille bei ihm nicht nach, anders, als es bei allen anderen der Fall gewesen war.

Der verdammte Trainer hatte gerade mal anderthalb Stunden gehalten und sich mittlerweile vermutlich irgendwo von einer Klippe gestürzt oder zu ersaufen versucht. Hätte er einfach noch einige Minuten gewartet, dann hätte sein Herz auch von alleine aufgehört zu schlagen oder seine Atmung ausgesetzt. Doch die Menschen schienen sich immer besser zu fühlen, wenn sie glaubten, eigene Entscheidungen zu treffen.

Doch etwas war seltsam gewesen: Der eigene Wille des Jungen schien unheimlich stark zu sein.

Es war nicht dazu imstande gewesen, seine Wut auszuschalten oder zu kontrollieren, geschweige denn, die Steuerung seines zentralen Nervensystems zu übernehmen. Fast kam es ihm so vor, als wäre sie durch irgendetwas noch zusätzlich verstärkt worden. Aber darum ging es jetzt nicht, dieser Frage konnte es später nachgehen, wenn sich die Gelegenheit bot oder es notwendig wurde. Und wenn nicht, dann eben nicht.

Doch was war jetzt zu tun? Es musste sich den Geist des Jungen zu eigen machen, soviel stand fest, denn sonst konnte sein Plan nicht gelingen. Doch vorher musste es mehr über die Eigenarten des Gehirns des Jungen herausfinden. Über das wie und wo musste es sich noch Gedanken machen, doch das hatte Zeit und die spielte keine Rolle. Die violette Flüssigkeit, das Visionaris, machte das ganze noch viel einfacher. Ein Glück, dass die Menschen von sich aus Substanzen entwickeln, die ihr Gehirn manipulieren…

Und so begann in dem Wesen, das Alex und alle anderen nur als Rebound kennen lernen sollten, ein grausamer, aber genialer Plan zu reifen.

Doch vorher musste es noch einige Statisten einspannen…    

7

„Dreamer’s Hospital? Recht makaberer Name, findest du nicht?“ Alex studierte die Broschüre eingehend.

„Du weißt doch, Werbung ist alles.“

„Hmm, was wolltest du noch mal?“

„Die Tele-Adresse, bitte.“

„Achja, Moment, hier steht sie ja… 0142 _ Mün_ 15384 _ Drea – Hosp!

„Okay, danke Schatz. Ich ruf¢ mal an und frage, wie’s ihm geht.

„Tu das.“ Noch ohne sein Einverständnis abzuwarten, hatten ihre zarten Finger damit begonnen, über das am Beifahrersitz montierte Schreibpult zu huschen. Er sah ihr fasziniert zu, aufs Fahren brauchte er sich, dank des Autopiloten, welcher an ein Navigationssystem angeschlossen war, nicht zu konzentrieren.

„Die vielleicht einzig sinnvolle Erfindung des einundzwanzigsten Jahrhunderts“, dachte er.

Seine Frau setzte das Headset auf, da sie wusste, wie sehr er laute Telefongespräche hasste, und klappte den kleinen Bildschirm herunter. Auch das Bildtelefon war schon lange Usus geworden.

„Guten Tag, Claudia Lamme mein Name. Ich habe soeben erfahren, dass mein Bruder, Mark Keller, bei ihnen als Patient aufgenommen wurde. Ich würde mich gerne über seinen Zustand informieren.

„Einen Moment bitte, ich führe eine Stimmanalyse durch und leite sie an einen zuständigen Arzt weiter.“ Der Antwort-Roboter schien Raucher zu sein, zumindest klang seine Stimme leicht wie die Joe Cockers in seinen schlimmsten Jahren.

„Guten Tag Frau Lamme, mein Name ist Dr. Schimdten, was kann ich für sie tun?“

Ein großer, schlanker Mann Mitte fünfzig war auf dem Display erschienen.

„Wie geht es Herrn Mark Keller?“

Alex wollte gerade seinerseits ein Headset aufsetzen, um Musik (oder das, was man anno 2043 als solche bezeichnete) hören zu können, ohne seine Frau zu stören, als er die Aufregung in ihrer Stimme bemerkte.

„Aufgewacht? Was meinen sie mit aufgewacht?“

Ihre Augen wurden zunehmend größer, während sie sich anhörte, was Dr. Schmidten ihr mitzuteilen hatte.

„Nein, ich denke nicht, dass er Basketballer war…

Aha, vielen Dank, einen schönen Tag noch.“

Sie hatte das Gespräch beendet.

„Was gibt’s? Du klangst so aufgeregt.“

„Er ist aufgewacht.“ Seine Frau war kreidebleich geworden. „Nur für wenige Sekunden, aber die Ärzte sind sich sicher, dass er wach war.“

„Und wie kamen sie darauf, dass er Basketball gespielt hat?“

„Er hat geredet! Zwar nur ein Wort, aber er hat etwas gesagt!“

„Und was?“ Plötzlich kam ihm ein schrecklicher Verdacht, aber er wagte nicht, ihn auszusprechen.

„Das ist ja das Seltsame, irgendwas von „Rebound“. Der Arzt meinte, das wäre ein Begriff aus dem Basketball.“

Den zweiten Satz hörte ihr Mann schon gar nicht mehr.

„Er hat Rebound gesagt, bist du dir ganz sicher?“ Alex Stimme klang so eindringlich, wie sie es schon lange nicht mehr

(vielleicht noch nie)

gehört hatte.

„Natürlich, wenn ich’s doch sage.“

„Das kann nicht sein! Es ist einfach unmöglich, du musst dich verhört haben.“ Doch stimmte das, war es wirklich unmöglich? Er musste sich Gewissheit verschaffen.

„Wir fahren ins Hospital, sofort.“

„Aber Alex, es ist in München… was ist denn überhaupt los mit dir?“

„Nur so ein Gefühl, ich erklär’s dir später. Wie lautet noch mal die genaue Adresse? Oder noch besser, tipp sie gleich ins Navigationssystem ein. Und noch eine Änderung, wir fahren ab jetzt Höchstgeschwindigkeit.“

8

Claudia Keller war eine hübsche Frau mittleren Alters. Sie war lebenslustig, freundlich und nicht allzu leicht aus der Ruhe zu bringen. Sie hatte die schönsten, rehbraunen Augen, die man sich vorstellen konnte, kakaofarbene Haut und schwarzes Haar, welches an einigen Stellen bereits grau wurde, was sie aber in keinster Weise alt erscheinen ließen. Ihre Kindheit hatte sie in Wannsee verbracht, einem der nobelsten Vororte Berlins. Sie war jedoch keines dieser typischen „Bonzen-Kinder“ und nicht das kleinste Bisschen eingebildet oder arrogant.

Alex war ihr rein zufällig über den Weg gelaufen, und zwar am Bahnhof. Sie war regelrecht in ihn hineingerannt, da sie in Eile gewesen war, um ihren Zug nicht zu verpassen. Dann war alles recht schnell gegangen: Er hatte sie zu einer Tasse Kaffe eingeladen, sie hatte den Zug Zug sein lassen und war mitgegangen. Sie unterhielten sich fünf Stunden lang über alles, was ihnen in den Sinn kam. Abends hatte er sie mit in seine Wohnung genommen, in der sie bis heute lebten und sie hatten miteinander geschlafen.

Es war nicht ihre Art, direkt beim ersten Treffen mit jemandem ins Bett zu gehen, doch es erschien ihr richtig. Und Männer machten sich ja sowieso meist keine Gedanken über so etwas. Danach waren sie nie wieder getrennte Wege gegangen und hatten alles geteilt. Zumindest hatte sie das gedacht. Doch heute hatte sie bemerkt, dass Alex etwas bedrückte, was er zuvor nie erwähnt hatte.

Sie waren nach München gefahren, um Mark zu besuchen, doch die Ärzte wollten sie nicht zu ihm lassen. Daraufhin hatte Alex  einen Elan an den Tag gelegt, den sie bei ihm seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Er hatte so lange diskutiert, bis ihm die Erlaubnis gegeben wurde, die sogenannten „Ruhe-Räume“ zu betreten, in denen ansonsten der Zutritt für Unbefugte untersagt ist. Dort lag Mark, gemeinsam mit über hundert weiteren Patienten in einem von Kameras, Mikrofonen und Sensoren überwachten Raum. Es war, als wäre es eine Leichenhalle, mit dem Unterschied, dass diese Leichen nicht tot waren, sondern entweder auf den Tod oder auf das Leben zu warten schienen. Als wären sie aus dem Spiel genommen worden und warteten darauf, noch einmal eingewechselt zu werden, hatte Alex gesagt.

Sie wusste nicht, warum er ihren Bruder sehen wollte und er wollte nicht mit der Sprache herausrücken. Aber so voller Elan hatte sie ihn lange nicht mehr erlebt.

Es gab Tage, da hatte sie gedacht, auch er liege im Koma, zumindest im geistigen.

Er war auf das Bett zugegangen, auf dem Marks Name stand, hatte nach seinen Lidern gegriffen und sie nach oben gezogen. Claudia war sprachlos gewesen, ebenso der Arzt, welcher sie begleitet hatte.

„Sie dürfen nicht…“, weiter war er nicht gekommen. Alex hatte auf die halb geöffneten Augen gestarrt und es schien, als müsse er sich zusammenreißen, um nicht laut loszuschreien. Claudia sah, was ihn derart in Panik zu versetzen schien. Die Augen ihres Bruders hatten eine seltsame, undefinierbare Farbe angenommen, vom hellen braun der früheren Tage war nichts mehr zu sehen.

„Oh mein Gott“, hatte sie gestammelt.

„Der kann ihm auch nicht mehr helfen! Komm, wir fahren nach Hause, ich muss dir Einiges erzählen. Und du musst mir einige Fragen beantworten.“

Sie hatten den irritiert dreinblickenden Arzt stehen lassen und die Klinik auf direktem Wege verlassen. Im Auto hatte Alex nichts gesagt, doch sie spürte, dass er nur auf den richtigen Augenblick wartete, um sie aufzuklären. Als sie in ihrer Wohnung ankamen, hatte die Dämmerung bereits eingesetzt. Claudias Mann ging in sein Arbeitszimmer und holte seine Notizbücher – zumindest hatte sie immer geglaubt, dass es Notizbücher seien. Doch als er jenes, mit dem roten, umkreisten „A“ auf dem Deckel aufschlug und ihr reichte, sah sie, dass es sich um Tagebücher handelte – um ausgesprochen ausführliche Tagebücher.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, begann sie zu lesen:

…Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Es war, als hätte mein Kopf zu pulsieren begonnen, als hätte ich meine Gliedmaßen nicht mehr in unter Kontrolle. Es hatte damit begonnen, dass der verdammte Meyer mal wieder seine Tage hatte und seine Wut an uns ausließ. Hundertsechzig Runden…

Ich fühle mich, als hätte ich zwei Nächte durchgemacht, mich ausschließlich von Whisky ernährt und würde jetzt nach dreißig Minuten Schlaf erwachen. Ich habe einen großen Fehler begangen, soviel ist sicher.

Jetzt erst mal einen rauchen, dann setz‘ ich das hier fort…

So, da bin ich wieder, stoned lässt sich das alles doch direkt um Längen besser ertragen. Wie konnte ich Pete das nur antun? Hoffentlich ist er nicht allzu wütend auf mich. Ich habe gerade mit Petes Mutter telefoniert, sie meint, dass die Ärzte ihn morgen am Spätnachmittag operieren wollen, ergo kann ich ihn erst am Samstag besuchen.

Bin hundemüde, fall¢ gleich um. Noch beschissener finde ich aber, dass ich gar nix mehr zu rauchen habe. Verdammt noch mal, das wird morgen wieder¢n laaaaanger Schultag.