BAR

„Just one drink!

Tock-tock. Tock-tock. Tock-tock.

Das schnelle Pochen seiner Lederschuhe auf dem brüchigen Asphalt hallte ihm durch den Verstand – als versuchte es, mit seinem Herzschlag Schritt zu halten. Mit zitternden Händen wischte er sich den Schweiß von der Stirn und verschmierte dabei das lauwarme Blut, das ihm aus einer tiefen Platzwunde über das Gesicht lief und in seinen Augen brannte wie das Wasser eines völlig überchlorten Schwimmbads. Ihm gefiel dieses Bild – obwohl er erst vor kurzem gelesen hatte, dass es eigentlich nicht das Chlor war, das für Brennen und rote Augen sorgte, sondern jene Dinge, die mit dem Chlor reagierten. Allen voran Blut, Schweiß und Urin.

(Just piss off! Piss off as fast as you can!)

     Ohne seinen Gang zu verlangsamen schaute er sich um. Hinter ihm ragten alte Fabrikgebäude in den sternlosen Nachthimmel, in deren Fensterscheiben sich das fahle Licht der Straßenlaternen spiegelte. Vereinzelt parkten Autos auf der schnurgeraden Straße, von denen die meisten jedoch so wirkten, als seien sie schon seit Wochen nicht mehr bewegt worden. Ansonsten war dort nichts. Und, was das wichtigste war: niemand.

(You might think that! Sheep always think that, don’t you know? And then the big bad wolf jumps out of the tall grass and tears out their larynx!)

     Er atmete tief ein; und der schneidende Schmerz in seinen Lungen erinnerte ihn daran, dass eine seiner Rippen gebrochen sein musste. Mindestens eine. Er verlangsamte seinen Gang, schaute an sich herunter und rieb vorsichtig über die dunkelroten Flecken auf seinem schweißnassen Hemd. Er sah beschissen aus, und genauso fühlte er sich auch. Das einzige, was an diesem Zustand etwas ändern konnte, waren eine Dusche, ein Bett und ein Arztbesuch am nächsten Morgen. Doch weil all diese Dinge gerade mindestens so weit von ihm entfernt waren wie frische Pinguinsteaks von einem Eisbären, entschied er sich für das nächstbeste, was ihm unmittelbar greifbar erschien: ein Getränk mit möglichst hohem Alkoholgehalt.

(Hell yes!)  

Da sein Verstand sich so sehr auf dieses Getränk zu freuen schien, dass er dessen realitätslindernden Effekt bereits auf seine gebeutelten Sinne projizierte – und vielleicht auch, weil ihm die fehlende Stringenz der Wirklichkeit selbst dann nicht aufgefallen wäre, wenn ein großer, im Nichts schwebender Pfeil darauf gezeigt hätte – betrat er die BAR.

(Just one drink! A teeny-tiny one!)

     Eine hell erleuchtete BAR in einem großen, schneeweißen Haus mit Garten, auf dessen hölzerner Veranda hunderte Teelichter brannten. Eine BAR, an deren hölzerner Außenwand mehr als ein Dutzend altmodische Leuchtschilder Alkoholsorten anpriesen, von denen er nicht einmal die Hälfte kannte. Eine BAR, die in diesem heruntergekommenen und verlassenen Teil der Stadt so fehl am Platz wirkte wie Gigi Allen auf einem Parteitag der NPD. So fehl am Platz, dass selbst jemand mit gebrochenen Rippen und einer tiefen Platzwunde am Kopf das Flackern im Schaltkreis der Realität hätte wahrnehmen müssen, das sie verursachte.

(One drink always makes everything better!)

     Doch als er die hölzerne Eingangstür aufstieß, über der in neongrüner Leuchtschrift das Wort BAR zu lesen war, ahnte er nicht, dass seine Probleme dadurch nicht weniger werden sollten. Nicht im Geringsten.

(Two drinks, at most…)