Albtraumfänger

Prolog

Das Ende der Welt beginnt an einem Sonntag. An so einem typischen, gottverdammten Sonntag, den du eigentlich nur auf eine von zwei Weisen verbringen kannst: Wenn du mit jemandem zusammen bist, bleibst du einfach im Bett. Lauschst den Regentropfen die auf der Dachfensterscheibe trommeln, während ihr Herz dazu die Pauke schlägt. Bum-bum, bum-bum, bum-bum, ein melancholischer Punkrockbeat im Dreiviertel-Takt.

Du liegst einfach nur da, mit angenehm schweren Augen, während der Horizont draußen in der wirklichen Welt die letzten Bissen des Tages verschlingt, und dabei scharlachrotes Licht quer über den Himmel sabbert. Wenn du den Atem anhältst, kannst du das Zucken ihrer Glieder spüren. Immer dann, wenn sie durch die schmale Luke zwischen Wachen und Schlafen fällt. Grundlos. Bodenlos. Und du fällst mit ihr.

Wenn Du nur mit dir selbst zusammen bist, schlägst du um 14 Uhr 38 unsanft auf dem Laminatboden der Realität auf. Nachdem du eine gefühlte Ewigkeit lang versucht hast, dich vor ihrem schrillen Klingeln zu verkriechen – und dabei schließlich über die Grenzen deiner Matratze hinweggekrochen und aus dem Bett gefallen bist. Das Klingeln der Realität klingt wie Beethovens Neunte, die deine Tante Heidi in einem Anflug von Menschenhass irgendwann mal zum Rufton ihres steinzeitlichen Haustelefons gemacht haben muss.  

Dadadadadaaah dadadadadahhh

Du raffst dich auf, versuchst dem kleinen Mann mit dem großen Vorschlaghammer in deinem Kopf auszuweichen, und stolperst über das halbvolle Glas Sauerländer Bockwürste neben deinem Bett.

Dadadadadadadadadadadadah

Unbeeindruckt kämpfst du dich durch den Flur weiter in Richtung Badezimmer, wobei du schlurfende Wurstwasserfußabdrücke auf dem Lieblingsteppich deiner Lieblingstante Heidi hinterlässt.

Dadadadadaaah

Im Badezimmer angekommen stellst du fest, dass der saure Geschmack von halb verdautem Whiskey Sour noch saurer wird, wenn man ihn mit Zahnpasta mischt.

Dadadadadahhh

Du erbrichst diese Erkenntnis leise wimmernd ins Waschbecken, schleppst dich ins Wohnzimmer und starrst missbilligend das große, rote Telefon an, dass dich von dem modernen Edelstahltischchen aus anbrüllt.

Dadadadadadadadadadadadah

Dadadadadahhh

Resigniert ergreifst du den Hörer. Er ist kalt und schwer.

„Hey Digga! Bist du wieder bei uns?“

Du verfluchst den Tag deiner Geburt.

„Wie geht’s eigentlich deinem Handy?

Einen Moment lang bist du von dieser Frage irritiert. Weil der halbe Amerikaner in dir bei einem HANDY zunächst nicht ans Telefonieren denkt, sondern an Samantha Smith aus der High School. Samantha mit den weichen Lippen und den noch weicheren Händen, mit denen sie…

„Als dir dein Handy gestern Nacht ins Pissoir gefallen ist…,“ fährt die Stimme unbeirrt fort, „… warst du da eigentlich angepisst?“ Schallendes Gelächter dröhnt aus dem Hörer, das den kleinen Mann mit dem großen Vorschlaghammer zu neuen Höchstleistungen anspornt.

„Aber es gibt auch eine gute Nachricht! Willst du sie hören?“

Nein! Nein, verdammt nochmal!

„Früher musstest du immer aufs Display gucken. Jetzt hast du alle Nachrichten direkt im Urin.“

Du stellst fest, dass du das spiralförmige Telefonkabel mittlerweile so fest um deine rechte Hand gewickelt hast, dass es dir das Blut abschnürt.„Hey, jetzt sag doch auch mal was!“

Du atmest tief ein, unterdrückst das Bedürfnis, das altmodische Wahlscheiben-Telefon gegen die neumodisch greige-farbene Wand zu pfeffern, und schweigst stattdessen tapfer weiter.

„Ben?“, fragt plötzlich eine andere Stimme. „Ist alles okay bei dir?“ Weniger nerv-tötend. Mehr besorgt. Und dann: „Ich glaube, wir haben es gefunden!“

Du reibst dir die Augen. Dein Mund ist so trocken wie guter Humor. Aber er hat keine Pointe.

„Siehst du es auch?“

Schales Tageslicht fällt auf den kleinen Zettel, auf dem Tante Heidi „dein unmögliches Verhalten bei deiner Heimkehr um 6 Uhr heute Morgen!!!“ anprangert – gleichzeitig aber auch auf „das große Stück Schwarzwälder Kirschtorte im Kühlschrank“ hinweist, „das unbedingt gegessen werden muss.“ Als Gott deutsche Tanten erschuf, hatte er wahrlich einen großen Tag! Oder zumindest keinen Kater…

„Es ist riesig, Mann! Und ganz ehrlich… irgendwie gefällt es mir nicht.“

Wovon redet er?

„Wovon zum Teufel redest du?“ Du hörst die Worte von den Felswänden deines Verstands widerhallen. Aber ihr Echo erreicht nie das Licht. Und deine Wirkliche-Welt-Stimme bleibt stumm.

„Warte!“ Jetzt spricht wieder die erste Stimme. „Das da soll es sein?“ Kurze Pause – gerade lang genug um auf eine mögliche Antwort zu warten, und sie dann zu unterbrechen. „Du willst mich doch verarschen!“

Du schaust dich um. Nektarinenfarbenes Licht quillt durch die halb geöffneten Jalousien, und malt unwirkliche Schatten auf den Wurstwasser-verseuchten Teppich im Flur. Deine Augen wandern weiter durch den Raum, bis sie an dem altmodischen Telefon hängen bleiben, das wie ein Fremdkörper auf einem ovalen Edelstahltischchen thront. Es scheint zu flackern. Ein loses Kabel im Schaltkreis der Realität.

Irgendwas stimmt nicht, denkst du.

„Irgendwas stimmt nicht mit dem Telefon,“ sagst du in den Hörer.

„Ben? Kannst du mich hören?“ Die Stimme klingt jetzt blechern, und deutlich weiter entfernt. Als würde Tante Heidis Wohnzimmer gerade durch einen Tunnel fahren.

„Irgendwas stimmt nicht mit dem Telefon!“, schreist du in den großen, roten Telefonhörer.

„I…dwas …immt… …nicht,“ antwortet die Blechstimme.

„Ich rufe zurück!“, brüllst du, und knallst den großen, roten Hörer auf die große, rote Gabel.

In diesem Moment wird die Welt schwarz.

„W…s …um T…fel… is… h…r …os?“ Du schreist, doch deine Stimme bricht ab. Als hättest du die Verbindung zur Wirklichkeit endgültig verloren.

„Na…n? W… … los?“

Statisches Rauschen füllt deine Ohren. Deinen Kopf. Deinen Verstand. Dann ist die Leitung tot.

Als du die Verbindung zur Welt wiederherstellst, ist Tante Heidis Wohnzimmer verschwunden. Die Wände und Fenster um dich herum sind verschwunden. Und der kleine Mann mit dem großen Vorschlaghammer in deinem Kopf ist ebenfalls verschwunden. Das einzige, was noch da ist, ist das große, rote Telefon, das vor dir im Nichts zu schweben scheint. Es klingelt.

Dadadadadaaah

Du nimmst den Hörer ab.

„Du hast mich gefunden“, flüstert eine Stimme am anderen Ende der Leitung.

Nur, dass die Stimme gar keine Stimme ist. Sie ist ein Kribbeln. Das Kribbeln von einer Million Spinnenbeinen auf dem Höhlenboden deines Verstands, auf der Flucht vor dem Lichtkegel einer gigantischen Taschenlampe. Gott, wie du Spinnen hasst! Diese kleinen, ekelhaften Biester mit ihren spindeldürren Beinen und bizarr geformten Körpern. Und sie beißen!

„Ich beiße nicht,” flüstert die Stimme die gar keine Stimme ist. „Es sei denn, du willst, dass ich beiße.“

Du knallst den großen, roten Hörer wieder auf die große, rote Gabel. Doch als du die Hand anhebst, hebt sich der Hörer mit ihr. Als ob er an deiner Hand festgeklebt sei. Oder schlimmer noch: Als ob der Hörer in Wahrheit deine Hand sei.

„Du hast nach mir gesucht,“ flüstert die Stimme aus deiner Telefonhand. Sie ist jetzt so klar, als würde ihr Besitzer direkt neben dir stehen. „Und du hast mich gefunden! Herzlich Willkommen in deinem schönsten Albtraum, Benjamin.“

Teil 1 – Wälder

1

Schon als kleiner Junge wusste ich, dass Nerweng ein außerordentlicher Ort war. So außerordentlich, dass es sich zunächst ganz harmlos anfühlte. Wie meine Lieblingshose, wenn der Stoff am Knie und im Schritt langsam dünner wurde. Kein Grund zur Sorge! Die hält schon noch! Bis eines Tages die Nähte rissen, und ich mit nacktem Arsch auf dem Kirchplatz stand.

Im Falle von Nerweng schien diese Außerordentlichkeit, diese konstante Spannung in den Nähten der Realität, aber niemanden wirklich zu beunruhigen. Wenn man hier aufwuchs – auf die Volksschule ging, danach in der Fabrik arbeitete, und irgendwann im selben Bett starb in dem man geboren worden war – gehörte sie einfach dazu. Das würden meine Nachbarn und Freunde von früher sicher bestätigen, wenn man sie fragte. Falls sie nicht gerade zu beschäftigt damit waren, die Fetzen ihrer Lieblingshosen zusammenzuflicken.

Mein außerordentlicher Heimatort lag mitten im Pott. Im Ruhrgebiet, wenn man es weniger poetisch ausdrücken wollte. Diese Region – benannt nach dem Fluss Ruhr, der sich wie ein Kohleflöz durch sie hindurchschlängelte – war in meiner Jugend für genau drei Dinge bekannt: Kohle, Stahl, und Luftverschmutzung.

Hängt eure Wäsche bloß nicht zum Trocknen raus, pflegten die Leute zu sagen, oder ihr könnt sie gleich nochmal waschen. Diese Schwarzseher befanden sich jedoch meist nur auf der Durchreise: Bayrische Bauerntölpel, die von ihren Bergen und Schlössern schwärmten, oder Schwäbische Schwätzer, die mit ihren Kuckucksuhren und Möchtegern-Märchenwäldern angaben. Sie kamen, erzählten uns in ihren Hinterwäldler-Akzenten einen vom Pferd, und zogen dann wieder von dannen.

Doch andere blieben. Kumpel aus Polen, Stahlarbeiter aus Italien, oder Mechaniker aus der Türkei fanden hier zunächst Arbeit in den Zechen und Hütten, und kurz darauf eine neue Heimat direkt daneben. Und während der Stahl in den Hochöfen immer schneller schmolz, verschmolzen darunter langsam auch die Kulturen. Und der Ruhrpott verschmolz mit ihnen: Dutzende Städte und Gemeinden, Heimat von mehr als fünf Millionen Menschen, flossen zusammen und legierten.

Außer Nerweng! Nerweng ist nie mit irgendwem verschmolzen. Nerweng ist nie mit irgendwas legiert. In Nerweng kam von der gewaltigen Flamme, die den gesamten Pott zum Kochen brachte, nicht mal ein einziger Funke an. Als ob mein kleiner, außerordentlicher Heimatort mit einer Art Schutzschicht überzogen wäre. Einer besonderen Isolierung, die stark genug war, um der Hitze der Hochöfen und dem Druck von flüssigem Stahl standzuhalten.

Ich glaube, dass dieser Schutz aus den Wäldern kam. Den tiefen, dunklen Wäldern, die Nerweng einschlossen wie Fels einen Kohleflöz. Und deren bloßer Anblick all die Bayern und Schwaben vor Neid in giftgrüne Goblins verwandelt hätte – wenn sie jemals genug Mut aufgebracht hätten sie zu betreten.

Wenn ich damals das Haus meiner Eltern verließ und ein paar Schritte gen Westen ging, war ich schon bald nur noch von Büschen und Bäumen umgeben. Hörte nichts, außer dem Wind, der sanft durch die Zweige rauschte. Roch nichts, außer dem betörenden Duft der Einsamkeit. Hätte ich hier meine Wäsche zum Trocknen aufgehängt: Sie wäre wohl sauberer von der Leine gekommen als direkt nach dem Waschen.

Doch die Wälder isolierten uns von weit mehr als nur dem Qualmen der Schlote und dem Dröhnen der Fabriken. Sie hielten auch den Gestank der wirklichen Welt von uns fern.

Als ich im Jahr 1922 geboren wurde, klaffte ein gigantisches Loch in der Seele Europas, das die Unaussprechlichkeiten des Ersten Weltkrieg hineingerissen hatten. An meinem ersten Geburtstag kostete ein Laib Brot mehr als 100 Milliarden Reichsmark, und französische und belgische Truppen hielten den Pott – das Ruhrgebiet – besetzt. Kurz nach meinem siebten Geburtstag sprangen ein paar Banker in New York aus dem Fenster, und die Welt stürzte mit ihnen in die größte Wirtschaftskrise aller Zeiten. Und kurz vor meinem elften Geburtstag wählte das deutsche Parlament einen auffallend charismatischen Österreicher mit auffallend bescheuertem Schnauzbart zu seinem Kanzler.

Aber keine Sorge! Das hier ist keine dieser unsäglichen Geschichten, in denen ein Opa vom Krieg erzählt. Versprochen! Zum einen, weil sie im Jahr 1935 spielt – und der größenwahnsinnige Schnauzbart zumindest öffentlich noch damit beschäftigt war, der Welt vorzugaukeln, dass er hinter all seiner unsäglichen Faschisterei eigentlich ein friedliebender Staatsmann war. Aber vor allem, weil sie in Nerweng spielt. Einem außerordentlichen Ort, der vom Rest der Welt so gut isoliert war, dass uns die Klauen der Geschichte zumeist nicht einmal kratzten.

Aber bitte versteht mich nicht falsch. Wir brauchten diese Klauen damals nicht, um uns zu verletzen. Denn hier in Nerweng floss das Blut irgendwann von ganz allein.

2

„Au, verdammt!“ Karlotta springt aus dem Brombeerbusch heraus, in den sie aus Unachtsamkeit hineingestolpert ist, und reibt sich die sichelförmige Schnittwunde am rechten Arm. „Hinterhältiges Scheiß-Gestrüpp!“ Sie bückt sich, pult ihren Joint aus einem Haufen modriger Blätter, begutachtet ihn kurz, und steckt ihn sich dann wieder in den Mund.

„Warte“, murmelt sie, während sie in den Hosentaschen nach einem Feuerzeug kramt und den leicht lädierten Joint wieder zum Glimmen bringt. „Das da soll es sein?“

Sie atmet hellgrauen Rauch aus, der einen Augenblick lang die Sicht auf „das da“ vernebelt, bevor er sich schließlich in der lauen Nachmittagsluft auflöst. Manchmal wünscht Karlotta sich, dass sie das ebenfalls könnte: Sich einfach in Luft auflösen!

Sie wirft den Joint auf den feuchten Waldboden und tritt ihn aus. „Du willst mich doch verarschen!“ Mit wütendem Blick starrt sie zwischen den windschiefen Bäumen hindurch ihre beiden besten Freunde an. Wobei es nur dann ein wütender Blick ist, wenn man Karlotta von der rechten Seite betrachtet. Betrachtet man sie von links, ist ihr Mund zu einem humorlosen Grinsen verzerrt, ihre Wange verkrampft und ihr linkes Auge weit aufgerissen.

Karlotta Kowlaczik ist zwölf, als ihr eine halbseitige Gesichtslähmung diagnostiziert wird. Ursache: unbekannt. Prognose: vollständige Heilung in sechs Wochen bis sechs Monaten. Sechs Jahre später hat sie dieses Versprechen der Ärzte als schlechten Scherz abgetan. Aber lachen muss ich darüber immer noch, sagt sie manchmal. Weil ein Teil von mir eben immer lacht.

„Bullshit!“, faucht sie jetzt. „Was für ein riesiger, dampfender Haufen Bullshit!Das da…“, sie deutet in den Wald hinein, „… ist der Grund, warum wir jetzt schon seit mehr als zwei Stunden durch diesen gottverdammten Wald irren? Diese stinkende, ausgebrannte…“

„Jetzt halt doch bitte für eine einzige Millisekunde deines Lebens einfach mal die Fresse!“ Der scharfe Ton in Nathans Stimme schneidet Karlotta tatsächlich das Wort ab. Als er weiterspricht, ist diese Schärfe aber schon wieder verschwunden. Stattdessen liegt Besorgnis in seinen Worten. Und… Angst?

„Ben? Kannst du mich hören?“

Doch Ben antwortet nicht. Er starrt mit weit aufgerissenen Augen das schwarze Haus zwischen den kahlen Bäumen an, das aus mit Brettern verrammelten Fenster zu ihnen zurückstarrt. Es ist gigantisch. Und es muss noch weitaus gigantischer gewesen sein, bevor es vor vielen Jahren einem Brand zum Opfer gefallen ist, der es bis auf sein schwarzes Skelett ausgezehrt hat.

Ein Feuer erwähnt das Buch in Bens Händen zwar nicht, aber ansonsten entspricht das Gebäude ziemlich genau den Beschreibungen auf den dicken, vergilbten Seiten. Es ist augenscheinlich ein Forsthaus, erinnert mit seiner mindestens fünfundzwanzig Meter breiten Front und den unzähligen Türmchen und Giebeln allerdings eher an eine viktorianische Villa. Dicke Säulen stützen das Vordach, an dessen Spitze ein überdimensional großes Hirschgeweih prangt, vor dessen Anblick anscheinend selbst die Flammen zurückgeschreckt sind. Breite Stufen führen zu einer massiven, zweiflügeligen Eingangstür hinauf. Obwohl das Haus mitten im Wald steht, scheint es, als hätten die kahlen, uralten Bäume freiwillig ein Spalier gebildet, um ihm nicht zu nahe zu kommen. Die treue Leibgarde ihrer Majestät. Erstarrt in Ehrfurcht – oder einfach in Furcht.

Und wer kann es ihnen verdenken? Selbst in seinem ausgebrannten und komplett vermoderten Zustand vermittelt das Haus noch immer den Eindruck pompöser Bedrohlichkeit. Und obwohl es fast einem Wunder gleicht, dass es nicht längst in sich zusammengefallen ist, scheint es zugleich fast so, als könnten seine Innenräume noch immer unversehrt und problemlos bewohnbar sein.

Genau wie Karlotta nimmt auch Ben einen seltsamen Geruch in der Luft war. Er riecht ihn so deutlich, wie er Leylas Parfum gerochen hat, wenn sie an einem dieser Sonntage das Bett teilten. Einem dieser gottverdammt wundervollen Sonntage, die sein betrunkenes Ich nun wohl endgültig in die Vergangenheit verbannt hatte…

Aber es ist kein Parfum! Es ist etwas Anderes. Etwas Fremdes. Ein ominöser Duft, der seine Sinne überflutet, gepaart mit einem seltsamen Kribbeln, das sich unbemerkt in seinen Verstand geschlichen und in seinem Herzen eingenistet hat. Ein Gefühl unbändiger Faszination, das ihn davon abhält, den Blick von dem schwarzen Forsthaus im Wald abzuwenden. Das es ihm unmöglich macht, sich in irgendeine andere Richtung zu bewegen als vorwärts.

3

Unser Verstand war schon ein seltsames Ding, nicht wahr? Für Kinder war er wie eine Höhle. Düster und angsteinflößend, und vor allem unglaublich aufregend. Doch je älter wir wurden, desto mehr kannten wir uns darin aus. Fingen irgendwann sogar damit an, überall Lampen anzubringen. Stellten Regale auf, Schränke, vielleicht sogar eine Couch und einen Fernseher. Und ehe wir uns versahen, hatten wir aus unserer einst so aufregenden Höhle einen komplett gewöhnlichen Keller gemacht.

Das letzte, woran ich mich noch erinnerte, war wie ich die knarzende Treppe hinunterstieg. Wie ich mich krampfhaft an dem wackeligen Geländer festhielt, das wahrscheinlich genauso unzuverlässig war wie der Rest dieser verdammten Bruchbude. Aber wenn man so alt war wie ich, wollte man auf keinen Fall das Gleichgewicht verlieren! Als ich endlich am Fuß der Treppe ankam, schlug mir das Herz bis zum Hals. Teils aus Erschöpfung, teils auch aus Angst. Wann war ich zum letzten Mal hier unten gewesen? Ich erinnerte mich nicht. Was für eine Überraschung!

Ich drückte den Lichtschalter auf der linken Seite der Treppe. Er funktionierte nicht. Moment! Er funktionierte doch. Ein schwaches, gelbes Licht flammte auf, am Ende eines langen Korridors voller Staub und Spinnweben. Ein Teil von mir fürchtete sich vor dem, was ich möglicherweise in den alten Umzugskartons finden würde, die sich dort bis unter die Decke stapelten. Aber ein anderer Teil freute sich auch darauf. Und als ich die erste Box aufriss – jene, auf der in windschiefen Buchstaben SOMMER 1935: WIE DER ALBTRAUM BEGANN geschrieben stand – übernahm dieser andere Teil das Kommando.

Plötzlich roch ich wieder die alten Bäume und das frische Gras, hörte Stimmengwirr und Gelächter – vertraut, irgendwie, und hochansteckend. Nichts hätte ich lieber getan, als mit dem Kopf zuerst in den Karton zu kriechen, und den Deckel hinter mir einfach zufallen zu lassen. Aber das konnte ich nicht. Zumindest jetzt noch nicht. Weil das nicht der Moment war, mit dem diese Geschichte beginnen sollte.

Diese Geschichte begann in einem völlig anderen Karton. Einem, der im Moment noch halbleer war. Dem allerletzten Karton, den ich hier unten abstellen und dann fest mit Paketband verkleben würde. Bevor ich diese ganze verdammte Bruchbude bis auf ihre Grundmauern niederbrannte.

4

„Wir haben es gefunden, oder?“ wiederholt Nathan seine Frage – und reibt sich dabei das linke Handgelenkt, auf dem die mannshohen Herkulesstauden ein unangenehmes Brennen zurückgelassen haben. Doch sein Freund Ben antwortet nicht. Wie in Trance starrt er das schwarze Haus an, das jetzt im faden Licht der untergehenden Frühsommersonne zu flirren scheint.

Jonathan Harold, der von seinen wenigen Freunden meist Nathan, und von Karlotta und Ben manchmal auch Nathan der Weiße genannt wird – eine hybride Hommage an Tolkien und Lessing – zwirbelt unruhig seinen hellblonden Bart, der ihm fast bis zum Bauchnabel reicht. Sein genauso langes, und genauso blondes Kopfhaar hat er zu einem filigranen Pferdeschwanz geflochten, und mit einer breiten, violetten Schleife zusammengebunden. Nathan überragt Karlotta um fast eine Unterarmlänge – sein Unterarm, nicht ihrer – und seine Schultern sind so breit, dass er zwischen den knorrigen Bäumen nur dann hindurchpasst, wenn er sich seitwärts an ihnen vorbeischiebt. Und doch ahnt er, dass er den Kampf gegen was-auch-immer in dem schwarzen Forsthaus auf sie lauert, nicht gewinnen kann. Zum einen, weil in seinem Leben noch nie einen Kampf gewonnen hat – weil er sich aus Prinzip weigert zu kämpfen. Und zum anderen, weil Kraft und Körpergröße gegen Dämonen nichts ausrichten können. Selbst dann nicht, wenn man eigentlich gar nicht an Dämonen glaubt.

In diesem Moment geht ein Beben durch Nathans Körper, nur wenige Zentimeter von seinem linken Hoden entfernt. Mit tauben Fingern greift er in seine Hosentasche, und zieht sein Handy heraus.

WebWorX-Nachricht von Leyla Ölmez (vor 4 Minuten): ich weiß echt nicht was ich machen soll 🙁  🙁  🙁

WebWorX-Nachricht von Leyla Ölmez (vor 3 Minuten): er hat mich einfach stehen lassen… :‘(

WebWorX-Nachricht von Leyla Ölmez (jetzt): kannst du mit ihm sprechen??? BITTE Nathan!!!

Ich wünschte, dass könnte ich, denkt Nathan, und mustert Ben mit einer Mischung aus Unbehagen und Irritation. Dann seufzt er, und beginnt mit seinen riesigen Fingern etwas unbeholfen auf dem Bildschirm herum zu tippen.

warum fragst du eigentlich immer mich, wenn es bei dir und deinen typen kriselt? Ich STEHE vielleicht auch auf männer, aber VERstehen kann ich sie deshalb noch lange nicht!!!

  Er liest, was er geschrieben hat, seufzt noch einmal, und löscht die Nachricht. Dann schreibt er:

warum kommst du nicht später bei mir vorbei, und erzählst mir in aller Ruhe, was los ist? und vielleicht kann ich dich danach irgendwie auf andere gedanken bringen… 😛 😛 😉

  Er grinst, lässt seinen Blick von Ben zu dem schwarzen Forsthaus und wieder zurückwandern, und löscht dann auch die zweite Nachricht.

ich gebe mein bestes! das wird schon wieder! :* :* :*

Er starrt seine Nachricht an, seufzt ein drittes Mal, und drückt schließlich die SENDEN-Taste – was sein Handy mit einem enttäuschten „Böb“ beantwortet. Dann poppt ein kleiner, roter Kasten auf seinem Bildschirm auf.

VERBINDUNG UNTERBROCHEN

Natan schaut zu Karlotta herüber, die gerade einen neuen Joint dreht; und den gigantischen Haufen Scheiße, in dem sie bis zu den Augenbrauen stecken, einfach zu ignorieren scheint. Dann wieder zu Ben, der schon seit Minuten einfach nur dasteht. Vollkommen regungslos, wie eine Marionette, gefangen in den Fäden der Zeit. Und schließlich zu dem gigantischen, niedergebrannten Forsthaus, das sich zwischen den laublosen Bäumen emporhebt, wie der Schatten einer schwarzen Welt.

Nur… da ist gar kein Schatten! Nathans Magen fühlt sich plötzlich so an, als habe jemand eine Bowlingkugel hineingeworfen und in seinen Eingeweiden einen Strike geworfen. Obwohl sich die langsam untergehende Sonne schon seit ihrer Ankunft feige unter einer Decke aus hellgrauen Wolken verkriecht, produziert ihr fahles Licht dennoch Schatten. Die Büsche und Pflanzen werfen Schatten! Nathan, Karlotta und Ben werfen Schatten! Selbst die seltsamen, kahlen Bäume rund um das Forsthaus werfen Schatten, die wie gigantische Spinnentiere über das vollkommen brach liegende Feld vor ihnen kriechen.

Doch das Haus selbst wirft keinen! An der Stelle, auf die eigentlich sein Schatten fallen müsste, ist… nichts. Leere. Fehlgeleitetes Licht. Als wisse selbst die Sonne bereits, dass es das schwarze Forsthaus eigentlich gar nicht geben dürfe.

5

Ich lernte Benjamin Nahele Ahrents an meinem 103. Geburtstag kennen. Einem bewölkten Sonnabend Ende Mai. Wenn man davon absah, dass ich zum Frühstück außer einer matschigen Scheibe Weißbrot und lauwarmem Fencheltee zusätzlich noch ein viel zu hart gekochtes Frühstücksei serviert bekam – und mir die Pflegerin mit einem netten, wenn auch aufgesetzten Lächeln beim Toilettengang half – war es ein Tag wie jeder andere.

Regentropfen prasselten an die staubige Scheibe meines zwanzig Quadratmeter Königreichs, und als ich einen Blick aus der Zimmertür warf, erblickte ich Frau Schrukowiak, die sich mithilfe ihres Gehwagens durch den sterilen Flur quälte. Als sie mich sah, schüttelte sie kaum merklich den Kopf und wandte sich ab. Um ein Haar wäre sie mit einem heraneilenden Pfleger kollidiert, doch der Weißkittel wich ihren schlurfenden Schritten gerade noch rechtzeitig aus. Dabei stieß er mit seinen Birkenstock-Latschen gegen eine Topfpflanze und verteilte Seramis-Steine quer über den Flur. Er ging weiter, ohne ihnen Beachtung zu schenken. Die Flure des dritten Stocks wurden um halb drei geputzt. Jeden Tag. Ohne Ausnahme.

Ich schloss die Augen. „Willibald“, sagte ich zu mir selbst, „ich wünsche dir alles Gute zu deinem Ehrentag. Solange die Kapelle noch Musik für dich spielt, wird es deine Aufgabe bleiben, die richtigen Tanzschritte zu finden.“ Und die Kapelle spielte noch – auch wenn aus dem Wiener Walzer im Laufe der Jahre ein nicht enden wollender Schmusetanz mit mir selbst geworden war.

Ich öffnete die Augen wieder. Die Neonröhren an der Zimmerdecke verströmten ein gleißend helles Licht, das mir in den Augen brannte. Die marode Zentralheizung rauschte. Zu gern hätte ich sie ausgeschaltet. Doch sie besaß kein Thermostat. Die Zimmertemperatur wurde von der Heimleitung festgelegt. Und sie war das ganze Jahr über konstant. Konstant zu warm.

Ich ließ mich in meinen alten Ohrensessel sinken und schaute aus dem Fenster in den leeren Innenhof hinaus. Ich stellte mir vor, wie dieser Innenhof wohl ausgesehen hätte, wenn das hier ein Kindergarten und kein Altenheim gewesen wäre. Wenn all die sterilen Flure und Zimmer von hellem Kinderlachen durchflutet würden, das jeden noch so griesgrämigen Greis mit Glück und Zufriedenheit erfüllte. Stattdessen hörte man hier allerhöchstens das Kaffeetassengeklapper von Scheintoten wie mir, und alles was wir hier füllten waren Spülmaschinen, Windeln und – in nicht allzu ferner Zukunft – Särge.

Vor meinem geistigen Auge erschienen glücklich lachende Jungen und Mädchen, die Gummitwist spielten und ihre saubere Schulkleidung auf dem riesigen Klettergerüst oder im Sandkasten ruinierten. Ich sah ihnen dabei zu, wie sie einander neckten, wie sie Ball spielten, herumtobten und rauften – als wären sie nicht bloß Ausgeburten meiner Fantasie. Und während ich sie beobachtete, muss ich wohl eingeschlafen sein. Denn als ich, aufgeschreckt durch ein Klopfen an der Tür, die Augen wieder aufschlug, standen die Zeiger der alten Kuckucksuhr an meiner Wand bereits auf viertel vor zwölf.

„James, ich gedenke den Lunch heute im Kaminzimmer einzunehmen“, murmelte ich. „White wine with the fish, and the same procedure as every year.“

Doch anstatt des Weißkittels, der mir mein fettarmes Mittagsmahl auf dem unvermeidlichen, eierschalenfarbenen Tablett servierte, betrat zu meiner Überraschung ein vielleicht 18-jähriger Junge mein Zimmer.

„Mister Daringhoff?“, fragte er, mit einem unverkennbaren Akzent, der wie Deutsch mit Kaugummi klang. Er ließ seinen Blick dabei unsicher durch den Raum wandern, bis er schließlich an meiner verwaschenen Strickweste hängen blieb, die die Lehne des hölzernen Besucherstuhls bedeckte. Die Bezeichnung Besucherstuhl täuschte allerdings, denn offen gestanden gab es schon lange niemanden mehr, der diese Sitzgelegenheit in Anspruch genommen hätte. Und so verwendete ich ihn nur noch als Kleidungszwischenlagerungsstuhl.

„In Person und Lebensgröße“, antwortete ich und stand auf, um meinen Gast zu begrüßen. „Hello and welcome!“

„Please… bleib Sie dock bitte sitzen,“ sagte der Junge, sichtbar überrascht von meiner Begrüßung. „Ick mökte Ihnen keine Umständen macken.“

„Noch macht mir das Aufstehen keine allzu großen Umstände“, erwiderte ich – während ich gegen das Schwindelgefühl ankämpfte, mit dem mein Körper seit ein paar Monaten überraschende Bewegungen quittierte. Ich gewann die Runde nach Punkten, und machte zwei schlurfende Schritte auf meinen unerwarteten Besucher zu.

Er war verhältnismäßig groß, hatte dunkles Haar und noch dunklere Augen. Seine Gesichtszüge waren fein geschnitten, und sein Lächeln wirkte freundlich und aufrichtig. Seine hellblaue Jeans schien irgendwie nicht richtig zu sitzen, aber das war vermutlich nur ein neuer Modetrend, der es noch nicht in meine altmodische Welt geschafft hatte. Er trug eine schwarze Stoffjacke und ein graumeliertes T-Shirt, von dem mich ein seltsam entstelltes Gesicht anstarrte, das sich beim genaueren Hinsehen als eine Vielzahl von Gesichtern entpuppte: Ich erkannte einen jungen Mann mit Seitenscheitel und Krawatte, dann denselben Mann mit Glatze und Vollbart, dann wieder glattrasiert mit einem goldenen Ring in der Nase, dann mit bunt bemaltem Gesicht und auffälligem Federschmuck auf dem Kopf. All I can do is be me, whoever that is war in verschlungenen, schwarzen Buchstaben unter all diesen deckungsgleich übereinanderliegenden Gesichtern zu lesen. Doch weil ich nicht die geringste Ahnung hatte, was das bedeuten sollte, wandte ich meine Aufmerksamkeit von dem zweidimensionalen Stoffdruck-Besucher ab und konzentrierte mich wieder auf jenen, der tatsächlich aus Fleisch und Blut zu bestehen schien. Er streckte mir die Hand entgegen. Ich ergriff sie. Unser Händedruck war kurz und fest.

„Ick hoffe, ick större Sie nickt“, sagte der Junge. „Sonst kann ick auch eine andere Mal wiederkomme.“

„Nun ja“, entgegnete ich ihm, „ich studiere bereits seit geraumer Zeit die atemberaubende Architektur dieses Innenhofes.“ Ich zeigte mit der Hand auf das Fenster, an dem die Regentropfen wie Murmeln hinunterkullerten. „Bis zum Abschluss meiner Untersuchungen werden wohl noch einige Tage vergehen. Vielleicht sollten wir in der kommenden Woche einen neuen Termin vereinbaren. Warum rufst du nicht bei meiner Sekretärin an, dann könnt ihr die Details besprechen.“

Der Junge schien einen Moment lang zu zögern, dann nickte er unsicher. „Was auck immer für Sie am besten ist.“

„Zis was a joke, young boy“, erwiderte ich. Dann tat ich etwas, was ich seit langer Zeit nicht mehr getan hatte. Ich lächelte. Als er mich fragend ansah, fuhr ich fort: „Dieser Innenhof… nun ja, das Einzige, was mich daran wirklich fasziniert, ist seine unvergleichliche Hässlichkeit. Aber um diese zu erkennen, bedurfte es keiner längeren Studien. Das habe ich in rund 1,43 Sekunden geschafft. Nimm doch bitte Platz.“ Mit diesen Worten schubste ich die Kleidungsstücke vom Besucherstuhl auf den Boden und wies mit der Hand darauf.

„Ick bin Benjamin Nahele Ahrents, Herr Daringhoff“, stellte er sich vor, nachdem er Platz genommen hatte. „Ick bin eine Exchange Student… eine Austauschschüler aus Anaheim in California. Und… ick brauche Ihre Hilfe! Ick…“

Und dann geschah etwas höchst Seltsames: Der Ausdruck auf Benjamins Gesicht veränderte sich, von freundlich, zu nachdenklich, zu besorgt, und dann zu etwas, das ich nicht wirklich einordnen konnte. Misstrauen vielleicht? Oder Verwirrung? Es kam mir vor, als habe er anfangs einen ziemlich klaren Gedanken im Kopf gehabt, der plötzlich von einem völlig anderen gewaltsam zur Seite gestoßen wurde. Und ich hatte den Faustkampf der Gedanken auf Benjamins Gesicht live mitverfolgt – wie auf einer Großleinwand. Oder hatte sich mein alter, müder Verstand das alles nur eingebildet?

Nein! Nein, irgendetwas stimmte hier nicht! Irgendetwas stimmte mit Benjamin nicht. Er sah plötzlich nicht mehr wie der fröhliche Junge aus, der vor ein paar Minuten mein Zimmer betreten hatte. Dass, was ich da in seinem Gesicht sah, war Hilflosigkeit. Hilflosigkeit, und Angst. Wie eine kleine, wehrlose Spinne, die von irgendwem aufgeschreckt worden war, und jetzt um ihr Leben krabbelte.

Albtraumfänger, Leseprobe